Dark Light

„Der Wanderer“ steht im Nebelmeer und sehnt sich nach den Versprechungen der Großstadt. Pulsierendes Leben und hohe Häuser! Sein Alter Ego sieht in die Skyline einer Megacity und am Ende sehnt er sich zurück nach Natur und Ruhe. Doch wohin er sich auch wendet, stets locken die Versprechen des jeweils anderen Lebens.

Full-HD-Portrait | 2012 | loop

“The wanderer” stands in the sea of fog and longs for the promises of the big city. Pulsating life and tall buildings! His alter ego looks into the skyline of a megacity and in the end he longs for nature and tranquility. Wherever he turns his gaze the wanderer in the year 2012 longs for the promises of the respective other life.

Full-HD-Portrait | 2012 | loop

Langsam nähert sich die Kamera rücklings der auf einem Felsvorsprung stehenden Person. Rasch identifiziert der wissende Betrachter die schwarz gekleidete Gestalt: Es scheint Caspar David Friedrichs berühmte Rückenfigur des Gemäldes Der Wanderer über dem Nebelmeer zu sein. Doch etwas irritiert die gewohnte Betrachtung des um 1818 entstandenen Gemäldes: Das einst starre Bild ist zum Leben erweckt. Der Rock des Mannes auf dem Felsen flattert im Wind, seine Haare zerzaust, Nebelschwaden und Schneeflocken treiben hastig vorüber. Plötzlich fliegen wie aus dem Nichts kommend geometrische Formen durch das Bild, formatieren sich zu einer urbanen Landschaft vor der Bergkulisse. Dann schwenkt die Kamera, zeigt die Person eingekreist von großstädtischer Architektur und offenbart schlussendlich deren Gesicht; es ist das Konterfei des Künstlers dieser Videoinstallation – Johannes Karl – selbst, der dort sehnsüchtig in die Hochhäuser blickt. Immer mehr Gebäude erscheinen und verengen zusehend den Kreis um ihn herum, verwehren die Sicht in die Ferne, bis sie sich plötzlich sprichwörtlich in Luft auflösen und verschwinden. Und dann steht sie wieder da, wie am Anfang, einsam auf einem Felsvorsprung das Nebelmeer betrachtend, die Rückenfigur.

Das ursprüngliche Gemälde – Caspar David Friedrichs Der Wanderer über dem Nebelmeer – das als Vorlage dieser Videoarbeit diente, spiegelt den Zeitgeist des frühen 19. Jahrhunderts wieder, geprägt von französischer Revolution und napoleonischer Besetzung. Nach der Befreiung und Neuordnung Europas strebten die Menschen nach Freiheit, Gleichheit und Individualität. Die Idee der Romantik mit ihren phantasievollen und subjektiven Sichtweisen, ihrer emotionalen Intensität sowie traumähnlicher Qualitäten wurde als neues Weltbild geboren. Caspar David Friedrichs Gemälde zeigen dessen Vorstellungen des romantischen Menschen: ein ehrfürchtiges Individuum, sehnsüchtig in die Ferne blickend, das Transzendentale zwischen Himmel und Erde erwartend. In der Abwendung von der Zivilisation und der Hingabe zur Natur erfährt der Mensch das allherrschend Göttliche.

Johannes Karl nutzt dies bekannte Motiv der Romantik, um es in die Gegenwart, ins Zeitalter digitaler Medien und Videoanimation zu übersetzen. Er überwindet das hyperbolische Schema der Gemälde, tauscht es gegen eine vertikal ausgerichtete Formensprache aus. Die technische Verfremdung in Der Wanderer zeigt den Menschen von heute. Was dem romantischen Individuum die gottgeschaffene Natur, sind dem modernen Menschen die konstruierten Megacities wie New York, Chicago oder Tokyo, die das Versprechen pulsierenden Lebens der Großstadt laut werden lassen. Doch Johannes Karl geht es nicht darum, den Kontrast der Epochen zu verdeutlichen, sie gar gegeneinander abzugrenzen. Ihn reizt die Dialektik zwischen beiden. Er spielt mit der romantischen Position, um ein neues, gegenwärtiges Verständnis von Fern- und Heimweh zu versinnbildlichen. Wie der mal starre, mal schweifende Blick der Kamera, pendelt Johannes Karls Protagonist rastlos zwischen zivilisatorischer Architektur und unberührter Natur, sich stets nach den Versprechungen des jeweils anderen Lebens sehnend. Das Spiel der Vermengung von Welten setzt sich in der Gestalt des Wanderers fort. Zieht die Repoussoirfigur Caspar David Friedrichs gerade durch ihre konsequente Rückansicht den Betrachter ins Bildgeschehen ein, löst Johannes Karl dieses Mittel der klassischen Kunst temporär auf. Indem er die Kamera schwenken lässt, gibt er das Gesicht der Rückenfigur – sein eigenes – dem Betrachter Preis. Dieser identifiziert sich fortan nicht mehr nur mit einer unbekannten Gestalt, vielmehr erkennt er den Künstler als kreatives, schaffendes Individuum, der in Wechselwirkung zu seinem Umfeld steht. Mit Hilfe dieser historischen Referenz schafft Johannes Karl seinen eigenen Künstlerepos: ein Mensch, der zwischen Historie und Gegenwart, Statik und Veränderung, zwischen Fern- und Heimweh oszilliert. Und doch stets beginnt und endet es mit dem zukunftsstrebenden Blick in die Ferne.

Karen Klauke, 2013

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